100 Prozent Karlsruhe

Bühne & Klassik // Artikel vom 18.09.2011

Elisa Reznicek sprach mit Helgard Haug von Rimini Protokoll über das Selbstverständnis des bekannten Regisseur- und Autorenkollektivs und das Projekt „100 Prozent Karlsruhe“.

INKA: Wie kann man sich den Arbeitsprozess bei Rimini Protokoll vorstellen?
Helgard Haug: Wir sind drei Einzelkünstler, die als Autoren und Regisseure in Zweier- oder Dreierkonstellation zusammenarbeiten. Beim „100 Prozent“-Format haben wir das Konzept gemeinsam entwickelt. Wenn wir Städte bereisen, schauen wir uns oft im Vorfeld Statistiken an. Wie ist die Gesellschaft beschaffen, wie sieht’s zum Beispiel mit dem Altersgefüge oder dem Einkommen aus? Doch zu den Daten hat man dann noch lange keine Gesichter, geschweige denn Geschichten. Wir wollten also etwas erfinden, bei dem die Stadt insofern die Stadtbühne erobert, als dass da eine repräsentative Menge steht, mit der man ein Befragungsspiel macht und dann Zahlen illustriert oder überschreibt und kommentiert.

INKA: „100 Prozent Karlsruhe“ ist eine Weiterentwicklung von 100 Prozent Berlin, das auch schon angepasst an Vancouver und Wien lief. Was sorgt dafür, dass keine Routine aufkommt?
Haug: Zunächst einmal sind es 100 neue Darsteller. [lacht] Wir sind neugierig darauf, wie das in Karlsruhe funktioniert und welche sozialen Netzwerke es gibt. Darüber hinaus ist Karlsruhe die Stadt des Rechts – auch das wird sich in der Gruppe der 100 Protagonisten festmachen lassen. Einen Ausschnitt beim Festakt zum 60. Jubiläum des Bundesverfassungsgerichts am 28.9. zu zeigen ist zudem eine tolle Chance und ein neuer Schritt für uns, auf den wir mit der gesammelten Erfahrung reagieren können. Wir begreifen das Ganze als originäres Stück, das vor Ort entwickelt wird.

INKA: Inwieweit hat „100 Prozent Karlsruhe“ eine politische Komponente?
Haug: Wir schreiben uns nicht auf die Fahne, dass wir politisches Theater machen, aber natürlich stellt das Stück ein paar relevante Grundfragen und spielt ja auch in der Grundanordnung mit politischen Entscheidungsprozessen. Der Festakt unterstreicht das zusätzlich. Neben den Fragen, die wir ins Spiel bringen, gibt es eine „Open Mic“-Phase. Das ist eine Möglichkeit, Dinge ungeschönt und unmanipuliert abzubilden, von denen Politiker teils vielleicht gar keine Ahnung haben. Es handelt sich um eine Produktion, bei der man sich auch als Zuschauer permanent fragt, wie man sich selbst positionieren würde – das werden sicher auch die Politiker tun.

INKA: Abgesehen von der offenen Fragerunde: Heben sich Abläufe und Inhalte von denen beispielsweise in Berlin ab?
Haug: Wir entwickeln das Ganze immer weiter, aber das Grundsetting mit den 100 Menschen, die einen Querschnitt der Stadt anhand der statistischen Daten abbilden und dann Fragen mit „Ja/Nein“, „Ich/Ich nicht“ oder in Karlsruhe ergänzend mit „gerecht/ungerecht“ beantworten, ist fest. Wer hat schon einmal ein Leben gerettet? Wer geht wählen? Wer wurde schon einmal verurteilt? Wir werden zudem schauen, was in letzter Zeit am Bundesverfassungsgericht entschieden wurde und welche Themen gerade in der Stadt aktuell sind. Es gibt einen Katalog von Fragen, die uns interessieren und von denen wir uns nur schwer trennen können – dieser ist aber natürlich erweiterbar und lässt sich auf Karlsruhe hin zuspitzen.

INKA: Sie arbeiten häufig mit so genannten „Experten des Alltags“, also „echten“ Menschen anstatt ausgebildeten Schauspielern. Worin liegt der Reiz?
Haug: Darin, dass wir die Stücke mit diesen Menschen gemeinsam entwickeln. Es geht nicht nur darum, wie ein Satz gesagt wird, sondern ganz klar um Inhalte. Im Mittelpunkt stehen das Wissen einer Person und ihr Erfahrungshorizont, die Haltung und das individuelle Mitteilungsbedürfnis. Aber auch das Risiko dieser Person, auf der Bühne bestimmte Sachen zu sagen. Wir haben uns entschieden, die Texte bei den Menschen zu lassen. Jeder, der auf der Bühne steht, vertritt sich quasi selbst, sagt und meint „ich“ – auch in allen Grautönen. Ich finde es nach wie vor sehr aufregend, einfach mit einer Frage loszuziehen und zu schauen, wer dazu in der Gesellschaft eine Antwort hat.

INKA: Wie ist Ihr Verhältnis zum „klassischen Theater“, das sich von diesem Ansatz meines Empfindens nach sehr abhebt?
Haug: Als wir angefangen haben, Theater zu machen, war alles definitiv noch artifizieller, aber es hat sich viel bewegt, weshalb ich nicht verallgemeinern kann. Man ist teils radikal auf der Suche nach einer Öffnung und einem direkteren Kontakt zur Gesellschaft. Es gibt auf jeden Fall keine Berührungsängste unsererseits, weil wir – obwohl wir eine freie Gruppe sind – auch immer mit Stadt- und Staatstheatern kooperiert haben. Es ist gut, das Ganze aufzumischen, und wir haben viele Leute getroffen, die daran großes Interesse hatten.

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