Der neue Schauspieldirektor Axel Preuß über Wahn und Wirklichkeit
Bühne & Klassik // Artikel vom 19.06.2016
Zur Spielzeit 2016/17 bekommt das Staatstheater Karlsruhe einen neuen Schauspieldirektor.
Axel Preuß, bislang noch am Staatstheater Braunschweig tätig, löst Jan Linders ab. In INKA stellt der neue Mann sein Programm vor.
INKA: Wie nehmen Sie Karlsruhe und Braunschweig im Vergleich wahr?
Axel Preuß: Zunächst einmal ähneln sie sich in ihrer Größe. Beides sind ehemalige Residenzstädte mit einem gewachsenen Bürgertum und einem Interesse für Kultur und Geschichte. Karlsruhe wirkt allerdings großstädtischer, betriebsamer. Im Gegensatz zur ehemaligen Zonen-Stadt Braunschweig hat es Kontakt zu einem anderen Sprach- und Kulturkreis und mit den Bundesgerichten eine unbestrittene Bedeutung für den Aufbau und Erhalt der Demokratie in Deutschland.
INKA: Haben Sie sich in Karlsruhe anders auf die Spielzeitgestaltung vorbereitet?
Preuß: Nein. In Braunschweig hat mich Braunschweig als Sitzstadt des Staatstheaters interessiert – und hier ist es Karlsruhe. Mich interessiert immer der Blick auf die Menschen, die städtische Situation, auf die Themen, die für die Menschen interessant sein können. Die Suchbewegung ist die gleiche, sie hat nur einen anderen Gegenstand: Karlsruhe.
INKA: Sie sprechen im neuen Spielzeit-Heft von einer thematischen Klammer, die die Stücke „Ich rufe meine Brüder“ von Jonas Hassen Khemiri und „Angriff auf die Freiheit“ nach Juli Zeh und Ilija Trojanow um die neue Spielzeit bilden. Was meinen Sie damit?
Preuß: Wir schlagen einen großen Bogen, wenn man noch Ferdinand von Schirachs „Terror“ hinzunimmt, das schon im September Premiere feiert und von der Bedrohung durch Terror und einem daraus resultierenden juristischen Dilemma handelt. Da setzen auch Zeh und Trojanow an, die schon sehr früh im 21. Jahrhundert dafür plädierten, unsere Freiheit nicht zugunsten vager Sicherheitsaspekte zu opfern. Das ist eine der wichtigsten Fragen der Gegenwart: Wie können wir unsere Zivilwerte, die wir seit der Französischen Revolution erworben haben – Meinungs-, Presse-, Kunstfreiheit usw. –, bewahren, obwohl wir bedroht werden? Keine Terrorzelle kann uns militärisch zerstören, das können wir nur selbst – moralisch und politisch. Auch Khemiris Stück, in dem ein unschuldiger junger Schwede mit „ausländischem Aussehen“ nach einem Anschlag verdächtig wird, gehört in diesen thematischen Bogen.
INKA: Wie passen die Klassiker, die ebenfalls 2016/17 gespielt werden, hierzu?
Preuß: In Sophokles’ „Antigone“ geht es um das Verhältnis des Individuums zum Staat, ganz ähnlich wie in „Terror“. Schiller beschreibt in „Die Jungfrau von Orléans“ eine junge Frau, die genau das verkörpert, wovor wir uns heute fürchten: Sie ist eine schlachtende Gotteskriegerin – da sind wir beim Wahn.
INKA: „Von Wahn und Wirklichkeit“ ist das Spielzeitmotto des Staatstheaters 2016/17. Sind das eigentlich Gegensätze?
Preuß: Ich bin mir nicht so sicher. Heutige Gotteskrieger tragen in ihrer Wirklichkeitswahrnehmung Züge, die wir nicht nachvollziehen können, die uns wahnhaft vorkommen. Ihre Wirklichkeit ist für uns Wahn, sie nehmen uns ganz anders wahr als wir selbst. Bei der konkreten Themensetzung durch Stücke waren uns ganz konkrete Fragen aus der Wirklichkeit wichtig.
INKA: Unterschiedliche Ansichten in unserer heterogenen Gesellschaft kann man ja auch als aufeinanderprallende Wirklichkeiten verstehen.
Preuß: Absolut. Es ist schwer, uns gegenseitig in unserem Weltbild zu erschüttern oder zu hinterfragen. Es kann zutiefst irritierend sein, dass mein Nachbar ganz anders auf die gleiche Straße sieht. Unsere Gesellschaft ist aber heterogen und wird es bleiben. Gerade heute, da Europa und seine Demokratie in Frage gestellt werden, müssen wir eine gemeinsame Erzählung über unsere Gesellschaft finden und uns selbst durch Erzählungen anderer Menschen immer wieder in Frage stellen. Das kann Theater leisten, weil hier Menschen an einem Ort zusammenkommen, eine Erfahrung machen und danach – auch mit den Künstlern – ins Gespräch kommen können. -fd
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