18. Indisches Filmfestival Stuttgart
Kino & Film // Artikel vom 19.07.2021
Das rein digitale„Indische Filmfestival Stuttgart“ fokussiert mit seinem gut 40 aktuelle Produktionen jenseits des Mainstreams umfassendem Programm das Leben der Menschen in Indien.
Gleich der Eröffnungsfilm „The Great Indian Kitchen“ von Jeo Baby greift das Schwerpunktthema auf: Eine emanzipierte Inderin erlebt durch ihre Heirat in eine höhere Kaste zwar einen gesellschaftlichen Aufstieg; doch ihre bisherigen Werte und Ideale zählen plötzlich nichts mehr. Mit dem Spielfilm, in dem es um Berge von Hausarbeit und ungewohnte Traditionen geht, startet Europas größtes indisches Filmfestival am Mi, 21.7. um 12 Uhr. Der Film wird am So, 25.7. im Festivalprogramm wiederholt.
Mit zwei Vorstellungen wagt sich das Festival zudem ins Stuttgarter Cinema Kino: Am Sa, 24.7., 18 Uhr, laufen die Doku „Berlin To Bombay“ von Marco Hülser und Daniel Popat, beide von der Filmakademie Baden-Württemberg, und der Kurzfilm „Rettai Jadai – Das Mädchen mit den roten Schleifen“ von Franziska Schönenberger und ihrem Ehemann Jay Subramanian aus München. Die vier Filmschaffenden sind anwesend. Ab 20.30 Uhr darf sich das Publikum auf den Spielfilm „Illiralare Allighe Hogalaare – Can neither stay here nor journey beyond“ von Girish Kasaravalli freuen, ein Leinwandwerk, das das Zeug zum Filmklassiker hat.
Wer die begehrten Trophäen „German Star Of India“ gewonnen hat, wird am Sa, 24.7., ab 20 Uhr online weltweit verraten. Die „Award Ceremomy“ wurde vorab in der Stuttgarter Wilhelma aufgezeichnet. Es werden Preisgelder im Gesamtwert von 7.000 Euro vergeben.
Das Rahmenprogramm lädt in ein Fernwehkino ein, stellt online im Stuttgarter Lindenmuseum Rituale und Traditionen rund ums indische Essen vor und bietet ein Konzert mit dem Stuttgarter Kammerorchester und jungen indischen MusikerInnen. Auch Rezepte für leckere indische Gerichte und Drinks werden vorgestellt.
Regie-Altmeister Girish Kasaravalli zitiert in seinem aktuellen Spielfilm „Illiralare Allige Hogalaare – Can neither stay here nor journey Beyond“ ein Gedicht des heiligen Dichters Purandaradasa aus dem 16. Jahrhundert. Wie Kasaravalli thematisieren viele indische Regisseure im Onlineprogramm das eigentlich abgeschaffte Kastenwesen. Bei ihm zieht der anfangs arme Junge Nanga später als gut situierter Familienvater aus den eigenen schlimmen Erfahrungen wie Diskriminierung, Ausbeutung und Demütigung keine Konsequenzen. Im Spielfilm „The Tenant“ von Sushrut Jain wird eine attraktive kosmopolitische Frau in einem konservativen Wohnhaus in Mumbai zum Störfaktor. Die Hausfrauen im Sari misstrauen der westlich gekleideten Neuen, die Ehemänner und die Heranwachsenden projizieren auf die schöne Meera ihre wildesten Fantasien und der 13-jährige Bharat sucht die Freundschaft zu ihr.
Für das westliche Publikum scheint es, also ob der große Bollywood-Traum vom selbstbestimmten Leben geplatzt ist. Wie in einem gläsernen Gefängnis fühlen sich auch jene 15 Jugendliche aus der untersten Kaste, die im behutsam beobachteten Dokumentarfilm „Breaking Barriers – The Casteless Collective“ von Maja Meiners ihren musikalischen Horizont um Rap erweitern dürfen. Die Beerdigungsmusiker aus Chennai sprechen in ihren Songs über die Unterdrückung der Frauen, Mitglieder der LGBTQI-Community sowie Diskriminierung durch das Kastenwesen. Das Publikum darf sich auf weitere filmische Highlights indischer Erzählkunst freuen. Der auf 35-mm-Film gedrehte Spielfilm „Barah By Barah – 12 x 12 Untitled“ von Gaurav Madan schildert in der heiligen Stadt Varanasi den Überlebenskampf des Totenfotografs Sooraj im Smartphone-Zeitalter. Um Korruption, die wichtige Infrastrukturprojekte in Assam verhindert und somit Landstriche zu Todesfallen macht, geht es in „Balconyt Bhogawan – God On The Balcony“ von Biswajeet Bora. Das Drama beginnt mit dem tödlichen Unfall einer Mutter mit einem wilden Elefanten. Die Schauspielerin Sonal Sehgal, die 2019 mit dem Drama „Lihaaf – The Quilt“ das Festivalpublikum in Stuttgart begeisterte, ist diesmal mit dem queeren Sci-Fi-Thriller „Manny“ von Dace Puce vertreten. Der Sprachassistent Manny nimmt eine Autorin, die sich zum Schreiben ihres neuen Buchs in das Haus einer Bekannten zurückgezogen hat, in Geiselhaft.
In „Koli Taal – The Chicken Curry“‘ von Abhilash Shetty machen die Zuschauer Bekanntschaft mit einem Ehepaar, das sein Enkelkind mit seiner Leibspeise Chicken Curry überraschen will. Doch plötzlich macht sich der noch lebende Hahn aus dem Staub. In „Searching For Happiness“ von Suman Ghosh beginnt für eine Mutter eine nervenaufreibende Suchaktion in den Straßen von Kolkata. Ihre vierjährige Tochter war einfach ihrem davongeflogenen roten Luftballon namens Happy hinterhergerannt. Und in „Not Today“ von Aditya Kripalani wird die 24-jährige Aliah gleich an ihrem ersten Arbeitstag als Suizidpräventations-Beraterin mit einem 52-jährigen Lebensmüden konfrontiert, der selbst 15 Jahre lang in diesem Beruf gearbeitet hat.
Drei Filme im Programm des 18. „Indischen Filmfestival Stuttgart“ sprechen die LGTBQ-Community an: Im Kurzfilm „Sheer Qorma“ des indischen Gay-Aktivisten Faraz Arif Ansari geht es um mutige muslimische queere Women of Colour. Die Regisseurin Rukshana Tabassum stellt in „Dammy“ einen Witwer vor, der eine Geschlechtsumwandlung plant, weil er nicht Daddy, sondern Mummy für seine Kinder sein will. Und im queeren Sci-Fi-Thriller „Manny“ von Dace Puce spielt Sonal Sehgal eine Autorin, die an einem autobiografischen Roman arbeitet, während sie mit ihrer Identität als heimlich homosexuelle Frau ringt. Dabei wird sie von ihrem Sprachassistenten in Geiselhaft genommen.
Das Stuttgarter Filmfestival stellt in der Kategorie Dokumentarfilm zahlreiche mutige Frauen vor: In „A Rifle And A Bag“ von Arya Rothe, Cristina Hanes und Isabella Rinaldi rufen Frauen ein Aussteigerprogramm für ehemalige Mitglieder der maoistisch geprägten Guerilla-Bewegung Naxaliten ins Leben. Der mehrfach ausgezeichnete Dokumentarfilm „Ritu Goes Online“ von Vrinda Samartha porträtiert die einfache Hausfrau Ritu Kaushik aus Neu-Delhi, die hart kämpfen musste, bis sie 2016 ihr Label Ritupal Collection für Taschen auf dem in Indien verbreiteten Internetportal Flipkarts gründen konnte. Die Doku „Watch Over Me“ von Farida Pacha schildert den Alltag in einer Palliativbetreuung in Neu-Delhi.
Wie sich das Leben in den Grenzregionen Indiens anfühlt, schildern dort lebende Menschen in „Borderlands“ von Samarth Mahaja. Es geht um die Frage, wie sie den Sinn des Lebens finden in einer Welt, die sie nicht kontrollieren können. „Moving Upstream Ganga“ von Shridhar Sudhir begleitet einen Wanderer auf einer 3.000 Kilometer langen Tour entlang des Ganges. „Willow Maatju Juni Akaini – Portrait Of A Willow Woman“ von Supriya Prasad dokumentiert eine 82-jährige indigene Frau aus Meghalaya, die sich an traditionelle Heilpraktiken, Glauben und Spiritualität klammert. Dagegen drückt die 96-jährige Karthiyani Amma erstmals in ihrem Leben eine Schulbank. „The Barefoot Empress“ von Vikas Khanna stellt eine Frau vor, die jahrzehntelang Tempel fegte und nun im hohen Alter die besten Noten in ihrer Klasse erreicht.
Zusammen mit den Kurzfilmen, die in vier thematisierten Blöcken („Justiz und Selbstjustiz“, „Mutter-/Tochterbeziehungen“, „Historisches und erste Corona-Shorts“ und Grenzsituationen“) zusammengefasst sind, erwartet das Publikum ein kuratiertes Programm, das mit scharfem Blick auf politische Fehlentwicklungen und gesellschaftliche Missstände hinweist und aus alltäglichen Kleinigkeiten ganz große Oper macht. Dagegen führt das digitale Fernweh-Kino direkt ins momentan unerreichbare magische Indien. Eine historische Motorradexpedition von Wien nach Mumbai, die der spätere Tiroler Orientforscher Max Reisch 1933 wagte, sowie drei atemberaubende und faszinierende Bahnreisen durch Indien mit der SWR-„Eisenbahnromantik“.
Ebenfalls im Rahmenprogramm: Saaz aur Avaaz – Instruments and Voices: Kinder und Jugendliche aus dem Projekt Ankur/Neu-Delhi sprechen über ihre Situation, ihre Not und ihre Hoffnung. Ein Junge tanzt zur Musik, die er von Musikern aus Stuttgart bekommt –zusammengeführt werden die verschiedenen Ebenen vom SKOhr-Labor, das sich in den vergangenen Jahren zu einer tragenden Säule der künstlerischen Bildungsarbeit des Stuttgarter Kammerorchesters entwickelt hat.
Ein besonderes Highlight des „Indischen Filmfestivals“ kommt aus dem Lindenmuseum in Stuttgart: In einer digitalen Führung anhand ausgewählter Sammlungsstücke wird thematisiert, dass Nahrung in den Praktiken und Philosophien Indiens nicht nur als konstituierend für Körper und Inneres betrachtet, sondern ebenso als bewusster Transmitter für heilbringende, reinigende und glückverheißende Ziele eingesetzt wird.
Das Onlinefestival kann mit einem Festivalpass für 18 Euro angeschaut werden; auch Einzeltickets zu je acht Euro pro Wunschfilm sind möglich. Die Kinovorstellung am Sa, 24.7. im Cinema der Stuttgarter Innenstadtkinos kostet neun Euro (erm. acht Euro). Für den Eröffnungsfilm muss ein Einzelticket gekauft werden. -ps/pat
Mi-So, 21.-25.7.
www.indisches-filmfestival.de
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