Algorithmen muss man nicht mehr buchstabieren: Peter Weibel zum Abschied
Kunst & Ausstellungen // Artikel vom 15.02.2023
Bislang hatte noch jede INKA-Ausgabe seit 2004 eine Konstante.
Das Programm vom ZKM, das wir über die Jahrzehnte eng begleitet haben, hat Peter Weibel gestaltet. Dieses Magazin ist das letzte in der Amtszeit des Wiener Medienkünstlers und -theoretikers. Zum 1.4. übergibt er sein Amt nach 24 Jahren an Alistair Hudson. Friedemann Dupelius fragte Peter Weibel nach dem Stand der Dinge seiner geplanten Ruhestandsresidenz aus Büchercontainern, über die Ideen hinter seiner Abschiedsausstellung „Renaissance 3.0“ und wo er das ZKM in 24 Jahren sieht.
INKA: Wie weit ist die Wiener Wohnbibliothek gebaut?
Peter Weibel: Was es im Moment gibt, sind ein Grundstück am Rande von Wien, Modelle und Gespräche mit Fachleuten. Die Bibliothek soll aus zwei Türmen bestehen – zwei Container von ca. 17 Metern Höhe – zwischen denen sich ein großer Lastenaufzug bewegt. Normalerweise führt ein Aufzug zur Wohnung. Mein Aufzug aber ist die Wohnung. Ich werde darin arbeiten, schreiben und schlafen. Im Erdgeschoss gibt es eine Nasszelle. Der Rest sind Bücher.
INKA: Aus einem Überseecontainer von welchem Kontinent würden Sie am liebsten lesen und warum?
Weibel: Mein favorisierter Kontinent wäre Südamerika, weil mit Jorge Luis Borges im Zentrum die südamerikanische Literatur Bücher als Tempel der Weisheit und Quelle des Wissens hütet.
INKA: Welche Bücher und über welche Themen möchten Sie noch schreiben?
Weibel: Sie kennen den Ausdruck „Timeslot“, den der Kapitän eines Flugzeuges äußert? Mein persönlicher Timeslot wird von einem Piloten diktiert, den die einen Gott und die anderen Zufall nennen. Vorausgesetzt ich habe noch einen größeren Timeslot, wird mein Ziel die Wiedergewinnung der Wirklichkeit durch Sprache sein. D.h.: die Verhexung des Verstandes und die Verzerrung der Wirklichkeit durch den Missbrauch von Sprache, wie sie heute üblich sind, zu beenden. Ich möchte noch die Projekte vollenden, die ich schon angefangen habe: Die Geschichte der Digitalisierung seit 300 Jahren, die grandiose Geschichte der Mathematik im 20. Jh., die politischen Verbrechen des 20. Jh. und ein Buch zum Thema Entropie und Evolution.
INKA: Zur neuen Ausstellung „Renaissance 3.0“: Was wird in dieser Renaissance neu geboren und wo kommt es her?
Weibel: Die erste Renaissance war die arabische zwischen 800 und 1200, in der Bücher über wissenschaftliche Werkzeuge und Ideen erschienen und von Schreib- bis Musikautomaten eine große technische Kultur herrschte. Die zweite Renaissance war die italienische vom 15. bis Anfang des 17. Jh. Renaissance heißt nicht nur Wiedergeburt der Antike, sondern vor allem Verwissenschaftlichung der Kunst. Heute ist eine neue Allianz zwischen Wissenschaft und Kunst möglich, weil sich WissenschaftlerInnen und Künstler einen gemeinsamen „Pool Of Tools” teilen. Früher, als das Werkzeug des Künstlers der Pinsel war und das Werkzeug des Zahnarztes der Bohrer, war keine Allianz möglich. Heute aber verwenden sie die gleichen mikroskopischen Kameras. Künstler und Wissenschaftler benutzen vergleichbare Hard- und Software, Computer, Sensoren, Algorithmen etc. Darüber hinaus endete bisher das Reich der Kunst an der Grenze des Sichtbaren. Den Horizont der Kunst bildete die natürliche Wahrnehmung durch das Auge. Die Wissenschaft hat seit Jahrhunderten Instrumente gebaut, mit dem sie in das Reich der „res invisibiles“ vordringt. Die Wissenschaft beginnt also jenseits der natürlichen Perzeption. In Genf baut man kilometerlange „Large Hadron Collider“, um unsichtbare Teilchen zu entdecken. Heute bedienen sich Künstler ebenfalls Apparate, mit denen sie in das Reich der bisher unsichtbaren Dinge hervordringen. So ergibt sich die Möglichkeit einer neuen Allianz zwischen Wissenschaft und Kunst im 21. Jh. Deren Zentrum werden die Lebenswissenschaften sein – von der Biochemie zur Molekularbiologie, von der Gentechnik zur Neurochirurgie. Obwohl gegenwärtig der Mainstream im Kunstbetrieb die Politisierung der Kunst ist, sodass die Kunst wie eine Art NGO wirkt bzw. operiert, möchte ich mit der Ausstellung „Renaissance 3.0“ einen anderen Pfad für die Kunstentwicklung vorschlagen, nämlich die Verwissenschaftlichung der Kunst, in der Theorie und Experiment eine Rolle spielen.
INKA: Welche Ausstellungen in 24 Jahren ZKM haben für Sie das längste, frischeste Nachleben?
Weibel: Meine Antwort ist eigentlich zu früh, weil erst die Nachwelt das Nachleben beurteilt, aber ich glaube die Gedankenausstellungen mit Bruno Latour („Iconoclash“, 2002, „Making Things Public“, 2005, „Critical Zones“, 2020-22) und vor allem meine Ausstellung „Open Codes“ (2017-19) mit freiem Eintritt, freiem Obst und freien Getränken, einer Mischung aus Labor und Club Mediterranée, könnten nachhaltig als neue Form des Wissenserwerbs wirken. Die Ausstellungen „CTRL[Space]” (2001-02) und „Die algorithmische Revolution” (2004-08) haben schon eine große Wirksamkeit erreicht, weil mittlerweile nach mehr als einem Jahrzehnt die Themen Überwachung und Algorithmen im Mainstream gelandet sind. Als ich die Ausstellung machte, musste ich das den Journalisten am Telefon noch buchstabieren.
INKA: Was wünschen Sie Karlsruhe nach 24 Jahren zum Abschied?
Weibel: Ein Museum ist ein Vier-Parteien-Problem: Personal, Presse, Politik, Publikum. Über das Personal entscheidet das Personal selbst. Insofern stellt es kein Problem dar. Von den drei anderen Parteien ist der verlässlichste Partner das Publikum. Ich wünsche daher Karlsruhe, dass das Publikum dem ZKM die Treue hält wie bisher. Das ZKM hat sich in meiner Ära immer verstanden als Dienst am Publikum und an den Künstlern, also als Dienst am Menschen.
INKA: Wo sehen Sie das ZKM in 24 Jahren und wie könnte der Weg dorthin aussehen?
Weibel: Das ZKM nennt sich Zentrum für Kunst und Medien, weil es eben nicht nur ein Museum ist, das Kunstwerke ausstellt und sammelt. Als Zentrum versteht es sich, weil es selbst forscht, entwickelt und produziert, sowohl im visuellen wie im akustischen als auch im theoretischen Bereich. Das ZKM ist ein Forschungsinstitut und müsste daher auch die Möglichkeit haben, zu lehren, also eine para-universitäre Einrichtung sein, so wie seinerzeit die von Beuys angekündigte Free International University. Das ZKM hat schon viele Archive gesammelt und wird noch viele mehr erhalten. Dazu gehört die technische Kompetenz, die das ZKM durch sein Technikteam, das Hertz-Labor und das Labor für antiquierte Videosysteme innehat. Zudem gibt es noch das Videostudio, das nicht nur dokumentiert, sondern auch Livestreams organisiert. Das ZKM ist ein Sender, technisch das bessere ZDF. Das ZKM sollte daher in den nächsten 24 Jahren seine technische Kompetenz ausbauen, d.h. eine Möglichkeit haben, die genannten Labore und die Abteilung Wissen (Archive und Sammlung) personell und finanziell zu expandieren. Dann wird das ZKM in 24 Jahren auch aus globaler Perspektive das Mekka der Medienkunst bleiben, um in Hunderten von Jahren der Prado der Medienkunst zu sein. Ich bewundere die zivilisatorische Leistung, dass wir im Prado Gemälde sehen können, die 500 Jahre alt sind und ich möchte, dass im ZKM in 500 Jahren Medienkunstwerke aus dem Jahre 2000 zu sehen sind. Das ist der Weg und das Ziel.
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