Nobody’s Listening & Barabási Lab

Kunst & Ausstellungen // Artikel vom 07.11.2021

Geschichten hören & Daten sehen.

Ein Riss geht durch das Gesicht der jungen Frau auf Thabit Mikhaels Ölgemälde „Ein Mädchen aus Ninive“. Er entstand nicht aus künstlerischer Absicht, sondern aus Hass. ISIS-Kämpfer haben das Kunstwerk geschändet, so wie viele andere kulturelle Artefakte, Kirchen, Moscheen und historische Stätten im Nordirak. Dort marschierte die Terrormiliz im August 2014 in die Region Sinjar ein und verübte ein Massaker an den dort lebenden JesidInnen und anderen „Ungläubigen“. 12.000 Menschen starben. Bis heute leben noch 400.000 Menschen in Flüchtlingslagern, ihre Heimat ist noch nicht sicher. Doch sind der Genozid und seine Folgen heute kaum im öffentlichen Bewusstsein. Die Ausstellung „Nobody’s Listening“ will dem entgegenwirken und dem jesidischen Volk eine Stimme verleihen.

Die internationale Gemeinschaft wird aufgefordert, den Völkermord anzuerkennen und, so Thabit Mikhael, den Menschen wieder eine sichere Heimat im Nordirak zu geben. Das zersäbelte Porträt ist neben einer entstellten Kinderpuppe das eindrücklichste Artefakt in einer Ausstellung, die primär die Menschen aus Sinjar sichtbar macht. Das gelingt ihr mit ausdrucksstarken Porträt-Fotografien, insbesondere aber auch durch Arbeiten jesidischer KünstlerInnen, mit denen sie das Erlebte verarbeiten. Suhalia Dakhil Talo malt vermisste Familienangehörige, die sie für tot hält. Nahrin Malki zeigt Frauen vor hängenden Tierkadavern – beide sind mit Preisschildern behangen, die Tiere sind auf ihrem Gemälde mehr wert als die vom IS missbrauchten und verkauften Frauen. Mittels VR-Technologie lässt sich das zerstörte Dorf Kocho betreten und den Geschichten von Leidtragenden zuhören.

Der Kontrast zur anderen neuen Ausstellung im ZKM könnte kaum größer sein. Die Netzwerk-Visualisierungen aus dem Bostoner Barabási Lab faszinieren durch ihre Sinnlichkeit und lassen in kosmisch anmutende Weiten abtauchen. Der Physiker und Netzwerkforscher Albert-Lászlo Barabási gründete das Labor 1995, um mit visuellen Mitteln die Zusammenhänge von großen Datenmengen darzustellen. Wissenschaft wird somit anschaulich, zugänglich und ästhetisiert. Faszinierend daran: Die Frage, ob das nun Wissenschaft, Kunst oder Design sei, wird mit zunehmender Auseinandersetzung unbedeutender. Die Grenzen zwischen den Disziplinen verschmelzen. Unsere komplexe Welt im 21. Jh. lässt sich nur im gemeinsamen Austausch begreifen. Dass Barabási ursprünglich Bildhauer ist, erscheint nur folgerichtig. Die Netzwerk-Visualisierung basiert auf der Sichtbarmachung von Verbindungslinien zwischen einzelnen Daten bzw. Knotenpunkten.

So lassen sich etwa genetische Verwandtschaftsbeziehungen zwischen Krankheiten oder das biochemische Gleichgewicht von Geschmäckern und Speisen erkennen. Auch zu menschlicher Mobilität, Fake News auf Twitter oder das Kunstsystem bietet Barabási neue Einblicke. Gleich zu Beginn der Corona-Pandemie lieferte das Lab mit seiner Analyse von potenziell gegen Covid-19 wirksamen Medikamenten die Grundlage für weitere Forschungen. Die entsprechenden Netzwerke wurden in Glaswürfel eingelasert – Svarovski für Nerds und Kunstfans quasi. Ähnlich sammlertauglich sind die in 3D gedruckten Netzwerkskulpturen, die seit 2018 entstehen. Mit „Hidden Patterns“ zeigt das ZKM eine Ausstellung, die sich szenografisch, ästhetisch und inhaltlich extrem nah an der Gegenwart bewegt. -fd

Nobody’s Listening: bis 9.1.22, ZKM-Museumsbalkon; Barabási Lab. Hidden Patterns: bis 3.4.22, ZKM Lichthof 1+2 (2. OG), Karlsruhe

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