Biss zur letzten Rübe – der reinste Genuss (Dezember 2021)

Stadtleben // Artikel vom 02.12.2021

When Blooms The Rose ’mongst Frost And Snows…

Eine Kolumne von Johannes Hucke, der die Region seit 2007 mit seinen Weinlesebüchern, Kriminalnovellen und Theaterstücken malträtiert. Mittlerweile versucht er, das INKA-SpaßBlatt mit epikureischem Gedankengut zu destabilisieren. Viel Spaß auch.

Das Modewörtchen „antizyklisch“ kann man ja auch antizyklisch verwenden. Was ich damit ausdrücken möchte? Leider vergessen. War sicher was Schlaues. Aber schlau ist nur anders doof, wie wir alle wissen. Worum geht es? Mit keiner lackierten Wildschweinkeule, keinem Elsässer Knoblauchhecht aus dem Backofen, ja nicht einmal mit Filet Rossini habe ich zur holden Weihnachtszeit je solche Erfolge erzielt wie mit – Brühen. Mit wem? Mit Pilzbrühe, Kräuterbrühe, ja, auch Gemüsebrühe, der fadesten Tante in der Verwandtschaft der Flüssigspeisen. Ist das so? Kommt sehr darauf an! Jedenfalls, es waren und hatten alle geladen, schwer sogar… Und der Abend des zweiten Feiertages drohte. Angstvoll äugten sie umher, ob ich am Ende gar Käsefondue auftischen würde bzw. Raclette bzw. Knödel-Tris mit Butter und Parmesan. Nichts da. Oh, wie blinzelten sie erleichtert, als ich an jedem Platz, ordentlich auf einem Täfelchen gereicht, je drei winzige Tässchen applizierte. Wie ahnen, was darinnen war. Nicht einmal von den Broten, die in der Tischmitte dufteten, wurde gekostet. Stattdessen ward es still. So viele Augen habe ich noch nie sich schließen sehen; bei manch einem waren es bis zu fünf! Und dann die Laute des Genusses… Übertreibe ich? Lest mal bei Franz Werfel nach, „Stern der Ungeborenen“, da sind Brühen die Hauptdelikatesse der Zukunft! Die Wohltat, wenn so etwas sanft Konzentriertes heiß den Rachen runterläuft, kann sich höchstens mit eiskaltem Bier vergleichen, im Hochsommer halt.

Wie also gehen wir vor? Fast zu einfach: Eine Zwiebel wird gehälftet, auf den Topfboden gesetzt und angebräunt. Kein Problem, wenn auch der Lauch schon mit dabei ist. Dann ablöschen mit weißem Wein und kaltem Wasser – und den Rest grob reinschneiden, also Rüben, Pastinake, Petersilie samt Wurzel, Sellerie samt Blättern… und was Ihr noch so findet. Während die Brühe immer heißer wird, wäre die Beigabe von Salz, Pfeffer, evtl. Chili und Kurkuma, Wacholderbeeren, Lorbeerblatt, Kümmel, Muskat und Majoran zu empfehlen. Kochprofis haben so ein Süppchen hinten rechts auf dem Herd rumköcheln, das gehört sich so. Die klären das sogar manchmal, bevor sie’s multipel weiterverwenden. Wir nicht. Zu aufwendig und auch nicht nötig. Nach etwa einer Stunde Einreduzieren ist die Geschichte schon schlürfbar. Für die Pilzbrühe lassen wir ein Drittel weitersimmern, aber mit einer Handvoll Trockenpilzen drin, Stein- oder Wald, aber nix Exotisches. 20 Minuten. Was Nummer drei, die Kräuterbrühe, anbetrifft, wird es schon schwieriger. Oder auch nicht, falls wir mit dem zufrieden sind, was es eh überall gibt, sprich Kresse, Dill, Schnittlauch, Petersilie. Das schneiden wir grob klein, pürieren’s fein mit Öl und Salz und mischen’s mit Gemüsebrühe, bis es schmeckt. Mit etwas Glück und Geschick steht unser Menü für den zweiten Feiertag. Enttäuscht? Erst mal probieren! Wir haben da was angedeutet… Sowohl beim Verfertigen der Brühe als auch des Kräutermatschs sind wir allzu bescheiden vorgegangen. Denn es gibt ja zahllose Gemüsesorten und Kräutlein, die es nicht gibt: zumindest nicht im Supermarkt, ja kaum auch auf den schönen Märkten Karlsruhes. Oder kauft Ihr jeden Samstag Bachbunge, Breitwegerich, Engelwurz, Gundermann, Hirtentäschel, Gelben Hohlzahn (ih!), Kohldistel, Mädesüß (hm!), Sauerklee, Taubnessel oder Zaunwicken ein? Ja? Kompliment. Folgende Gruselstatistik möge verdeutlichen, was ich meine: Es gibt 380.000 Pflanzenarten, davon 30.000 essbare – immerhin! Der Mensch aber als solcher hat bislang bloß 6.000 ausprobiert. Relevant – jetzt wird’s armselig – sind nur 200. Puh… Und wenn ich jetzt verrate, dass 66 Prozent des Weltanbaus auf gerade mal neun Arten entfallen, stellt sich von selbst die Frage, ob wir eigentlich einen Hammer haben. Scheinbar schon: Jedes Individuum futtert nur zwei Prozent des Genießbaren. Aber Schniposa! Herrschaftszeiten…

Bevor wir an uns selbst verzweifeln, machen wir’s uns doch noch mal schön winterlich, okay? Ihr kennt sicher alle Roberts Frosts Gedicht „Stopping By Woods On A Snowy Evening“. Lange Zeit galt es als unübersetzbar. Bis ich es übersetzt habe. Ich halte es für die beste Übersetzung des Gedichtes überhaupt. Wobei ich leider keine anderen kenne – nicht mal die ins Finnische. Und die vom Finnischen wieder zurück ins Englische schon gar nicht. Was soll’s! Jetzt bitte ein Scheit im Kamin nachlegen, die Tweet-Jacke zuknöpfen, die heißen Brühen parat halten… und gemächlich loszuckeln: Abends am Wald anhalten bei Schnee / Ich weiß wohl, wem die Wälder sind. / Sein Haus steht, wo das Dorf beginnt; / Von dort nimmt er mich gar nicht wahr / Am Wald, der füllt mit Schnee sich lind. // Mein Pferdchen denkt sich: Sonderbar… / Hier halten, wo kein Hof je war, / So zwischen Wald und Teich voll Eis / Am dämmerigsten Tag im Jahr? // Es regt sich, fragt mich was… uns sei’s, / Ob ich den Weg nicht weiterweiß. / Sein Glöckchen klingt. Still wird es dann. / Nur leichter Wind und Flocken leis. // Tief lieblich zieht der Wald mich an, / Doch hab ich einen Schwur getan. / Und Meilen, bis ich schlafen kann. / Und Meilen, bis ich schlafen kann.

Wenn euch das immer noch nicht genug ist an Festtagsfreude: Ich hab da noch was. „Iss auf, der Koch kommt! Texte zum Essen“ heißt mein neues Büchlein, hinreißend illustriert von der Malerin und Winzerin Beate Wiedemann. Ich will jetzt nicht sagen: Es ist das Weihnachtsgeschenk überhaupt! Wer z.B. gerade jemand lieb hat – solche Fälle sind bekannt –, lässt sich vielleicht lieber mein Liebesromänchen „Engelsberg“ einpacken. Ist auch noch ganz neu. Und sichert garantiert zusätzliche Schmuseeinheiten. So. Das war jetzt ein bisschen wie einer halbseidenen Talkshow, in der ich die Rolle der Jungschauspielerin mit den übereinandergeschlagenen Beinen übernommen habe, die feixend ihre Memoiren platziert. Das macht man heute so, es hat Methode, ist ganz bestimmt erfolgreich und auch nicht nur zur Weihnachtszeit. Klingeling!

Zurück

Einen Kommentar schreiben

Bitte rechnen Sie 7 plus 4.

WEITERE STADTLEBEN-ARTIKEL