Biss zur letzten Rübe – der reinste Genuss (Juni 2021)
Stadtleben // Artikel vom 01.06.2021
Gesundheit! Danke.
Eine Kolumne von Johannes Hucke, der die Region seit 2007 mit seinen Weinlesebüchern, Kriminalnovellen und Theaterstücken malträtiert. Mittlerweile versucht er, das INKA-SpaßBlatt mit epikureischem Gedankengut zu destabilisieren. Viel Spaß auch.
Eine Zeit lang hatte ich nur eine Kollegin, die war eine esoterische Wundertüte. Um mich mit ihr unterhalten zu können, las ich mich fleißig ein; doch kaum konnte ich über indianische Schwitzhüttenkultur parlieren, oblag sie schon dem sibirischen Schamanismus, hatte ich die Höhen der tibetanischen Meditationskunst erklommen, war sie schon längst eine Keltin, die im 6. Jahrhundert gegen die Angelsachsen gekämpft hat. Dabei störte mich von Anfang an eines fundamental: Müssen wir unbedingt der politisch-ökonomischen auch noch die kulturelle Ausbeutung anderer Kontinente folgen lassen? Haben wir hier nicht auch ein bisschen Mystik, Heilkunst, Feldsalat? So begann ich, motiviert durch einen treffsicher ausgeführten Schicksalsschlag, ein hiesiges Gesundheitsprogramm zu entwickeln, Taugenichts-Therapie geheißen. Wie ich höre, erfreut sie sich mittlerweile bei Indios, in Sibirien, Tibet und vor allem bei Kelten großer Beliebtheit.
Und? Taugt sie denn was, die Therapie? Ein bisschen. Am besten natürlich, man geht nicht mehr arbeiten, dann ist der Wirkungsgrad am höchsten. Es dreht sich um Balance, um die Homöostase zwischen möglichst geringer Anstrengung und höchstmöglichem Genuss. Jahrhunderte hatten sich daran versucht und waren jämmerlich gescheitert. Wie sollte ausgerechnet mir so etwas möglich sein? Ganz einfach. „Gesund durch kontrolliertes Nichtstun: Reha in Bad Heimbleib mit Goethe-Diät und Epikur-Kur!“ Da hatte ich schon mal ein Programm. Es ging zunächst um die Abgrenzung von minder tauglichen Therapieformen. Die meisten, die von einer Kur nach Hause kommen, brauchen ja erst mal Urlaub. Dass die Hauptziele einer Reha-Maßnahme – Regeneration der Kräfte, Heilung der Erkrankung – meist nicht oder nur teilweise erreicht werden, liegt vorwiegend an einem funktionalen Gesundheitsverständnis. Dabei sind wir (immer noch!) keine Apparate, sondern in erster Linie Gefühlswesen; verstaut in einen Betonblock in Krankenkassen-Optik, belästigt von egozentrischen Mitpatienten, entnervt durch miserables Essen, reagiert der Mensch zunächst mit Aggression, dann Resignation, schließlich Depression.
Die Taugenichts-Therapie setzt dementgegen auf Selbstheilungskräfte, die durch eine Kombination aus Verzicht und Annehmlichkeit geweckt werden. Verzicht bedeutet dabei zumeist, sich jedwedem Druck zu entziehen, auch dem durch Medizin und Therapie. Annehmlichkeiten verschaffen wir uns durch denkbar einfache Maßnahmen: ausruhen, spaziergehen, etwas Gymnastik, gutes Essen, ab und zu ein Gespräch. Kur im Lateinischen sowie Therapie im Griechischen bedeutet helfen, heilen, für jemanden sorgen. Lassen wir die Einsicht walten, dass jeder Mensch sein eigener Experte sei, geht an der Taugenichts-Autotherapie kein Weg vorbei. Der Taugenichts, wir erinnern uns an Eichendorffs Novelle, wird nur von anderen so gesehen; seine Klugheit und unbekümmerte Welterkundung erscheint den Spießern in ihrer durchrationalisierten Welt vor allem als – Faulheit, Bummelei. Doch auch Herumbummeln will gelernt sein.
Im Kern geht es um so was wie Bekehrung: zur Muße, zur Ruhe. Aus diesem Grund habe ich mich an einen Bekehrungshelfer gewandt. Es handelt sich um einen Hovawart-Mischling, der schon früh das unspezifische Herumliegen vervollkommnet hat – insofern Provokation und Vorbild für Gestresste und Selbst-Überforderer. Außerdem braucht er Bewegung, Zuwendung, Nahrung. Damit hat sich’s. Der Therapieplan ist immer gleich. Vorbereitungen sind keine nötig. Manches, was in aufwendigen Kuren geschieht, übertragen wir auf unsere bescheidenen Verhältnisse: Die Grünanlage oder das nahegelegene Wäldchen ersetzen den Kurpark, der Esstisch den Speisesaal und die Badewanne das Wellness-Zentrum.
Goethe-Diät. Was gemerkt? Der Titel ist Quatsch. Goethe hat keine Diät gehalten, nicht mal während seiner Kuraufenthalte. Nur Kaffee ermüdete ihn. Und zum Tee äußerte er sich wenig gendergerecht: „Und doch, was sollen die Frauen ohne ihn anfangen? Das Teemachen ist eine Art Funktion, eine eingebildete Tätigkeit. Besonders in England. Da sitzen sie behaglich umher und sind weiß und sind schön und sind lang, und da müssen wir sie schon sitzen lassen.“ Gemeint ist in unserem Fall das Lebensbejahende des Speisengenusses, die Freude am essbaren Teil der Schöpfung: Alles, was du gut verträgst. Belegt ist ein weiteres Element, das den Olympier als Dionysiker ausweist. Immer wieder warnen Forscher vor den Folgen des Weinverzichts. Man wird mürrisch und unduldsam. Andererseits soll man Goethe, der eine bis drei Flaschen schon zum Mittagessen brauchte, nicht in allen Punkten imitieren. Ansonsten pflegen wir den grün-konservativen Rückgriff auf Gepflogenheiten der Großeltern: sonntags Fleisch, vielleicht noch einmal unter der Woche Wurst oder Schinken und etwas Fischiges. Wir schwärmen keineswegs für Steinzeit-Typen, verputzen auch nicht ausschließlich Hirse und Quinoa. Wir gehen auf den Markt. Oder ins Füllhorn.
In Karlsruhe im Rahmen des Gesundheitsgenusses das Füllhorn zu empfehlen, lässt sich nicht eben originell an. Es muss aber auch mal gesagt werden: Wenn der Laden zumacht, fällt ein Hauptgrund weg, hier wohnen zu bleiben. Was soll man denn tun, wenn der Winter dräut? Feldsalat aus Grötzingen besorgen, Sauerbraten vom Schojohann einlegen! Und warten, bis das erste Postelein wieder aus dem Körbchen schimmert. Sogar in Berlin muss man in fünf Läden gehen, um zu bekommen, was das Füllhorn ganz allein an uns verschwendet. Von Allergien Gepeinigte würden bald sterben, denn wo sollten sie das Kichererbsen- oder Kastanienmehl herkriegen? Oder das Teff-Mehl? Diesem sei unsere erste Rezeptempfehlung gewidmet: Injera mit Alicha und Misir Wot nebst Berbere. Melkom mégéb!
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