Französischzwang an Gymnasien

Stadtleben // Artikel vom 06.05.2007

Französischzwang an Gymnasien aus persönlicher Sicht und leidvoller Erfahrung.

Der Zufall wollte es, dass wir seit geraumer Zeit in einer mittleren Großstadt mit kurzer Tradition leben. Etwas hält uns hier, in der Residenz des Rechts, in Karlsruhe. Die Welt bereisen, zu Hause sein. Ist es das "mediterrane Flair"? Ist es die regionale Nähe zum traditionsreichen, schönen Frankreich? Oder ist es die Liebe zu veralteten, anderswo längst ausgestorbenen Worten wie z.B. Trottoir?

Man gründet Familie, wissend, dass die Gegend nicht zum tiefsten Hinterwald, sondern zu einer Technologie-Region gehört, man seinem Kind also auch was Bildung und Zukunft betrifft, etwas bieten kann. Die Grundschule kann man sich nicht aussuchen wie Äpfel oder Birnen im Supermarkt. Hier zählt nicht die jeweilige Pädagogik der Schule, sondern es zählt der Schulbezirk, die räumliche Nähe, die Kommunikation und Kontakt leicht machen soll. Am Ende der ersten Lehrjahre steht den Kindern, je nach Notenschnitt, der Wechsel auf eine Schule nach Wahl frei. Wirklich frei? Wir leben ja in einer Demokratie, oder?

Das Schulsystem hierzulande teilt die Kinder im Laufe der 4. Klasse für ihren weiteren ("Bildungs"-)Weg ein: Schubladen werden aufgezogen und gefüllt. Als Beschriftung dieser Schubladen dienen "Leitbilder" und "Schulprofile". Die mussten sich insbesondere die Gymnasien zulegen, um von außen einen eindeutigen Charakter aufzuweisen, ein "Etikett".

Bis vor einer Weile durften und konnten sich die Eltern hiervon leiten lassen: Mein Kind ist gut in Sport: Wir empfehlen Ihnen dieses Gymnasium! Meines ist leidenschaftliche Musikerin: Testen Sie dieses, Rückgabe (sprich: Schulwechsel) bei Nichtgefallen möglich usw. Das ist schön für diese Kinder. Aber das war einmal.

Und was ist im Übrigen mit den Kindern, deren Neigung, Interessen und Stärken im Alter von 10 Jahren noch nicht so ausgeprägt sind? Die unter Druck noch keine Pisa-infizierte Spezialisierung erlitten haben und noch offen sind für alles, was die Schule bieten kann?

Heutzutage spielt in Baden, einem schmalen Randbezirk entlang des Rheins, bei der Entscheidung der Eltern für eine weiterführende Schule nicht nur das Etikett, sondern auch die Sprachenfolge eine bedeutende Rolle: Es herrscht Französischzwang!

Im Schuljahr 2007/2008 wird – beschlossen und unterzeichnet am 19. April- Französisch als erste Fremdsprache an baden-württembergischen Gymnasien entlang der "Rheinschiene" festgeschrieben. Gemeint ist aber nur der eine Teil des "Musterländles" und auch davon nur ein kleiner Teil: die am westlichen Rand. So will es der Kultusminister Helmut Rau.Weit weg von der Sprachgrenze wird im Zentrum des "Ländles" bestimmt, dass diese Kinder nicht nur in der Grundschule Lieder auf Französisch trällern, sondern als "erste" Fremdsprache im Gymnasium die Sprache des Nachbarn lernen sollen, es lebe Europa! Die Berliner lernen trotzdem nicht polnisch, die Niedersachsen nicht flämisch, die Bayern nicht tschechisch, aber die Badener lernen französisch. Sie galten als weltoffen.

Heute nun werden sie von Stuttgart aus zwangsweise eingegrenzt.Eltern, die ohne politische Motivation oder Abneigung gegen Frankreich weniger Wert auf diesen "wichtigen Bestandteil des europäischen Kulturerbes" (Zitat Ministerium für Kultus, Jugend und Sport) legen und die französische Sprache als erste und wichtigere Fremdsprache ablehnen und mehr Wert auf das Erlernen derjenigen Sprache legen, die für mehr als 300 Millionen Menschen der Erde die Muttersprache ist - Englisch - müssen sich auf die Suche begeben, um ein Gymnasium zu finden, das ihre Kinder auf einen Weg bringt, den sie gut heißen (oder rechtzeitig wegziehen).

Glücklich finden sie ein solches und melden ihr Kind an dieser Schule an. Das ist die erste Wahl - es lebe die Wahlfreiheit! (Man erinnere sich an die Badische Revolution)!Eine solche Schule hat aber aufgrund ihres Etiketts - Englisch verstärkt! Später nach Können und Neigung bilingual! Keine Festlegung in der 5. Klasse! - einen starken Zulauf. Gänzlich unerwartet kann das nicht gewesen sein, aber die Schule selbst kann dafür nichts.Die Protestrufe, die der Französischzwang hervorgerufen hat, verhallten ungehört oder arrogant überhört an den Hügeln des Schwarzwaldes.

Wir leben in einer Demokratie und im Musterländle obendrein. Was zählt da schon der Wählerwille, was haben Eltern, Elternbeirat, Lehrer, Schulleiter oder Unternehmer schon zu sagen, wenn der Herr Minister die Aufregung gar nicht versteht und er es anders will?Die Schublade quillt über, was anders ausgedrückt heißt: die Klassen werden aufgefüllt bis zum Rand (na, hören Sie mal! Man muss doch auch mal an die Kosten denken!), die Schulen schaffen Stauraum im Keller, die Kinder werden innerhalb von Gemäuern auf Wanderschaft geschickt. Der Rest wird in andere Schubladen, sprich Schulen mit anderem Etikett gestopft - Französisch! Musik! Kunst! Sport! Die zweite Wahl.

Immerhin, es war die zweite Wahl der Erziehungsberechtigten, nicht gemeint als Qualitätsmerkmal, nein, das nicht, aber doch nur die zweite Wahl. (Dass bei der Auswahl derjenigen, die "zuviel" sind, die Wohnortnähe keine Rolle mehr spielt, und auch eine zwischen Grundschule und Gymnasium gepflegte Beziehung unbedeutend ist, sei in diesem Zusammenhang fast nur nebenbei bemerkt.)Die einen werden dadurch - schlimm genug - Kellerkinder und den anderen, den Abgewiesenen, wird die Möglichkeit genommen, den Weg zu gehen, den ihre Eltern für sie als den Bestmöglichen ausgesucht oder den die Kinder sich selbst gewünscht haben. Und das, weil sich ein paar Politiker fürstähnlich und weltfremd produzieren. Sie schauen über den Tellerrand und übersehen den Tisch. Nicht nur "Pisa" ist das Problem, Stuttgart ist es.

Au Revoir Wahlfreiheit, und die Chancengleichheit ist gleich mit dahin. Denn der Sprachzwang ist ja außerdem auch eine Einschränkung der Mobilität für Eltern und Kinder: Ein "Umtausch" ist so gut wie unmöglich, das Kleingedruckte zeigt die Barrieren eines Schulwechsels auf. Diese Kinder sind Versuchskaninchen, denen weder Äpfel noch Birnen, sondern saure Gurken vorgesetzt werden. Kommt es zu einer Renaissance der Wortbedeutung von 'auspowern'?Die Kinder laufen Gefahr "ausgepowert" zu werden - durch das (G8-)System in seinem heutigen, aber möglicherweise auch in seinem ursprünglichen Wortsinn.

Bastian Sick, populärer Erklärer der deutschen Sprache,erläutert: "... 'ausgepowert' [ist] ein französisch-deutsches Wort (...), das nachträglich anglisiert wurde: 'Ausgepowert' heißt heute meist nicht mehr als 'erschöpft', 'entkräftet'. Die ursprünglich viel weiter, nämlich an die materielle Existenz gehende Bedeutung ist verloren gegangen." Hoffentlich verloren gegangen ... Sprache überrascht doch immer wieder.Kennt im Schwabenland jemand das Wort Trottoir? (Gehweg, Bürgersteig. Anm.d.Ü.)(Wir fühlen uns übergangen und veräppelt - mit Recht!?)

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