Neue Armut
Stadtleben // Artikel vom 17.04.2007
Die 3. Deutsch-Französischen Autorentage: Es ist eine Mischung aus Seminar, Happening, Austausch und Entdeckungsreise. Bisher kamen nur Insider zu den Deutsch-Französischen Autorentagen am Badischen Staatstheater.
Doch das dürfte sich aufgrund begeisterter Mundpropaganda und aktueller Themen ändern. Wer die mehrtägige Veranstaltung besucht, hat nicht nur die Möglichkeit, junge Dramatiker aus Deutschland und Frankreich persönlich kennen zu lernen, man kann auch vortrefflich diskutieren, streiten, Meinungen austauschen. Als Schauspieldirektor Knut Weber vor drei Jahren unter dem Motto „Blickwechsel" dies Kind gebar, traf sich ein kleiner Kreis, saß stundenlang auf den harten Bänken der Insel, lauschte gebannt den sehr gut aufbereiteten szenischen Lesungen und sprach im Anschluss mit Autoren, Regisseuren und Schauspielern. Erörterte man 2005 noch Unterschiede der Theatersysteme, ging es bereits 2006 zur Sache: Die durchweg beeindruckenden Stücke zum Thema „Kriegsszenarien" gingen mächtig unter die Haut. Mit genau recherchierten Details ließ beispielsweise Thorsten Buchsteiner die Geiselnahme in einem Moskauer Musicaltheater aus Sicht von drei involvierten Frauen Revue passieren. Ihn interessierte die Absurdität eines unvermittelt in den Alltag hineinbrechenden Schreckens.
Zu den Entdeckungen 2006 gehörte auch „Verbrennungen" des in Kanada lebenden Autors Wajdi Mouawad, das vom Staatstheater aufgeführt wurde. Von Terror, Krieg und Verbrechen bis hin zu den Pariser Vorstadtkrawallen reichte der brisante Diskussionsstoff. Die Bühne sei wieder ein Ort der Gerichtsbarkeit, kommentierte Regisseur Donald Berkenhoff zum Abschluss sichtlich angetan und postulierte die Rückkehr des politischen Theaters. Auch dieses Jahr steht harter Stoff zur Debatte: Es geht um „Neue Armut". Vom 20. bis 22.4. finden in Zusammenarbeit mit dem hiesigen Centre Culturel und dem Bureau du Théâtre et de la Danse, Berlin zum dritten Mal die Deutsch-Französischen Autorentage Karlsruhe (Blickwechsel III – Regards croisés III) statt. Die Schere zwischen arm und reich geht in Frankreich wie in Deutschland immer weiter auseinander. Eine breite Mittelschicht fürchtet den sozialen Abstieg, wie ein Damoklesschwert schwebt der Begriff „Altersarmut" über einer vergreisenden Gesellschaft. Die Kampfzone verläuft zwischen Arbeitsplatzbesitzern und Arbeitslosen. Moralische Verwahrlosung, zerrüttete Familienstrukturen, Mangel an Bildung, harter Wettkampf und ein Erstarken rassistischer Kräfte sind die traurigen Folgen. Das Schauspiel des Badischen Staatstheaters hat zu diesem Komplex Autoren ausgewählt, die die Arbeitslosigkeit, geistige Verarmung, Migration und in letzter Konsequenz den Krieg thematisieren.
Die Figuren vieler Dramatiker verlieren den Anschluss an den Mainstream unserer Gesellschaft. Ulf Schmidts Stück „Heimspiel" erzählt von denen, die offenbar nicht mehr gebraucht werden. Auch die unausstehliche Familie aus „Familienporträt" lebt am Rand der Gesellschaft: Sie ist arm, unflätig, bösartig und rassistisch. Doch unter der schwarzhumorigen Feder der Autorin Denise Bonal bewahren sich die Personen neben Galgenhumor eine gehörige Portion Überlebensinstinkt. Marie NDiaye stellt in „Papa muss essen" ebenfalls Familienzwist in einer bescheidenen Pariser Vorstadtbude dar. Anders als erwartet endet „Spargelzeit" von Lothar Kittstein. Zur Ernte kommen neben den polnischen Saisonarbeitern zwei arbeitslose Deutsche auf den Spargelhof, zwangsverpflichtet von der Agentur für Arbeit. Virginie Thirion schnappt gerne Geschichten auf. Die studierte Psychologin liebt es, wenn ihr Menschen etwas erzählen, selbst wenn sie sich für den Inhalt nur mäßig interessiert: Das Wie ist die Basis ihrer Arbeit. Die 1965 in Frankreich geborene und in Belgien lebende Autorin stellt mit „Zéphira. Die Füße im Staub" das Schicksal einer Afrikanerin vor, die illegal in Frankreich lebt. „Schonzeit" lautet der trügerische Titel von Andreas Jungwirths neuem Stück. In seiner modernen Rotkäppchen-Variante demontiert der in Berlin arbeitende Germanist Defizite einer überstylten Leistungsgesellschaft. Mit dem zunehmend sensationslüsternen Publikum beschäftigt sich Volker Lüdecke: In „Topterroristen Think Tank" lassen sich die Medien von terroristischer Agitation instrumentalisieren. Um religiösen Fanatismus, Krieg und Gewalt kreist auch „Heiliges Land" von Mohamed Kacimi.
Im Anschluss an die ersten Lesungen groovt am Freitag, 20.4. um 21 Uhr das musikalische Kabarettduo Pigor & Eichhorn nicht immer politisch korrekt. Seriöser geht es am Ende des zweiten Tag zu: Unter dem Motto „Nur wer im Wohlstand lebt, lebt angenehm" moderiert Hans-Georg Schmidt-Bergmann, Leiter der Literarischen Gesellschaft, eine Podiumsdiskussion, an der Jens Bisky (Süddeutsche Zeitung), Professor Engler (Rektor der Schauspielschule Ernst Busch Berlin), Bernd Fleury (Intendant des Theaters Le Maillon Straßburg), Jean-Baptiste Joly (Direktor Akademie Schloss Solitude) und Roland Pfefferkorn (Professor für Sozialwissenschaften in Straßburg) teilnehmen. Danach können alle Thesen bei einer Party überprüft werden. Sonntags lockt ein Frühschoppen schon um 12 Uhr in die Insel, nach drei weiteren Lesungen endet dann der Marathon mit einer Abschlussdiskussion. -ub
www.staatstheater.karlsruhe.de
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