Sasha Waltz & Guests – „In C“

Stadtleben // Artikel vom 08.11.2022

Zu ihrem Karlsruhe-Comeback bringt Sasha Waltz den Minimal-Music-Klassiker „In C“ von Terry Riley mit.

1964 war das eine revolutionäre Komposition, die aus vielen kleinen, frei kombinierbaren Teilen besteht. Davon ausgehend entwickelt die Sasha Waltz Compagnie ein ähnlich variables choreografisches Repertoire. „In C“ ist kein fertiges Stück, sondern ein sich stets entwickelnder Prozess, der Tanz, Musik und Raum gleichberechtigt einbezieht.
Di+Mi, 8.+9.11., 20 Uhr, Tollhaus, Karlsruhe

INKA: Neben Gastspielen der Compagnie und Soloarbeiten von TänzerInnen ist nun auch deine Compagnie selbst am Festival „Tanz Karlsruhe“ beteiligt mit einem während der vergangenen zwei Pandemiejahre entstandenen Stück „In C“. Wie hat die Compagnie die beiden Jahre mit den Proben und Aufführungseinschränkungen überstanden? Wurden Stücke auf kleinere Formate umgeschrieben? Sind die Besucherzahlen auf dem Vor-Corona-Niveau? Gibt es je nach Land oder Kontinent – ihr seid auch in den USA mit „In C“ auf Tour gewesen – Unterschiede?

Sasha Waltz: Es war eine kreativ herausfordernde Zeit – Proben mit Maske in Innenräumen, oft fehlten TänzerInnen. Wir sind aber relativ gut durch die Pandemie gekommen und haben versucht, soweit es geht, zu arbeiten. Ich habe Ideen entwickelt, wie ich trotz der vielen ausgefallenen Gastspiele die freischaffenden Tänzer unterstützen kann. So entstanden neue Formate wie das „Tanztagebuch“ mit seinen 50 Folgen. Tänzer zeigten darin einzelne Szenen aus dem Repertoire in neuem Umfeld, tanzten auf dem Dach, im Wohnzimmer mit Familie, auf dem Parkplatz in Griechenland, im Wald und im Schlafzimmer in Kreuzberg. So konnten wir die Tänzer auch während des Lockdowns künstlerisch beschäftigen. Als man wieder zusammenkommen konnte, begannen wir, im Park zu proben. Ich habe für den Abend „Dialoge – Relevante Systeme“ im Sommer 2020 im Berliner Radialsystem meine Choreografie zu „Le sacre du printemps“ von Igor Stravinsky umchoreografiert auf Abstand, ohne Kontakt, ohne Hebungen, Duette oder Gruppenszenen und stattdessen drei verschiedene „Sacre“-Gruppen parallel an drei verschiedenen Orten gleichzeitig im Radialsystem auftreten lassen, da nur eine sehr reduzierte Zuschauerzahl erlaubt war. Gleichzeitig erarbeitete ich 25 Soli um das Thema Diskriminierung mit Musik von Georg Friedrich Haas, die unter freiem Himmel rund ums ganze Radialsystem-Gebäude aufgeführt wurden. Als Abschluss gab es drei Versionen von „Boléro“. Wir waren außerdem Teil des Pilotprojekts „Berliner Modell Tanz“, einem Zusammenschluss von Berliner Häusern, die Tanz zeigen und gemeinsam ein Konzept entwickelten, um auch in der Pandemie sicher weiterarbeiten zu können: Welche Maßnahmen muss man ergreifen, sodass man wie im Sport weiterproben kann trotz Lockdown? Wir arbeiten seitdem mit einem Labor zusammen und testen alle Beteiligten sehr regelmäßig, um Ansteckungsketten zu vermeiden. Ein immenser logistischer und finanzieller Aufwand zusätzlich zu allen anderen Herausforderungen für Kunst und Kultur in der Pandemie. Ich muss aber an dieser Stelle auch die Politik loben, die die Kultur unterstützt hat! Jetzt sind viele Förderungen ausgelaufen, aber immer noch sind Tänzer regelmäßig krank – schwierige Arbeitsbedingungen, da man nie die ganze Gruppe zusammen hat. Insgesamt aber eine kreative Zeit, denn man musste konstruktiv mit der Situation umgehen. So entstand „In C“, ein Stück erst auf Abstand choreografiert mit 53 einzelnen Figuren, die man auch über Videotutorials digital erlernen konnte. Das ist ein wichtiges Stück für mich, wird noch lange weiterentwickelt und in vielen Ländern gespielt. Es ist nicht nur eine Reaktion auf die Pandemie, sondern auch auf den Klimawandel. Wie können wir anders produzieren, anders unsere Kunst verbreiten, insgesamt auch unseren CO2-Footprint verringern?

INKA: Nach zwei harten Corona-Jahren ist in Deutschland besonders die Freie Szene, Kleintheater, Livemusikclubs, Kabarett in einer Schraubzwinge aus Krieg, Energiekrise, Inflation und Corona in einer beispiellosen Abwärtsbewegung begriffen. Auch etablierte Häuser haben oft nur 20 Prozent Auslastung. Wie siehst du die Situation, wie erlebst du die Auswirkungen in Berlin?
Waltz: Wir haben das Glück, dass unsere Besucherzahlen wie vor der Pandemie sind. Aber das ist nicht überall so. Viele Festivals, Veranstalter, Opernhäuser und Konzertsäle klagen über geringe Auslastung. In Europa und Amerika ist es ähnlich, es gibt aber graduelle Unterschiede, in den Metropolen ist es vielleicht etwas einfacher. Die Menschen sind hier sehr an das kulturelle Leben und die Vielfalt gewöhnt, jedoch gibt es auch in Berlin viele Häuser, deren Auslastung zu gering ist. Schlimm ist es anscheinend in vielen anderen Teilen Deutschlands; und vor allem experimentellere Formen, Venues, kleinere Formate und Künstler leiden. Man muss noch mehr Energie in Werbung, Pressearbeit, Fernsehen, Radio und Social Media stecken, um die Menschen in die Theater zu bekommen. Auch wird viel kurzfristiger gekauft, weswegen man schlecht kalkulieren kann. Abos funktionieren nicht mehr so gut. Es gibt keine Verlässlichkeit, denn die Menschen wissen nicht, was passiert, ob sie u.U. krank werden. Außerdem halten die Leute ihr Geld zusammen. Man überlegt, ob man etwas Neues ausprobiert und wenn man irgendwo hingeht, möchte man genau wissen, was einen erwartet. Ich würde den Menschen gerne Mut machen: Die Theater sind alle mittlerweile so umgerüstet, dass sie über gute Lüftungssysteme verfügen und die Auflagen sind hoch. Im Theater finden wir Konzentration, Fantasie, manchmal entführt es uns in eine bessere Welt, es gibt uns Hoffnung und Energie, mit den aktuellen Krisen umzugehen. Es nützt nichts, nur negativ zu analysieren. Nein, lasst uns gemeinsam konstruktiv und mit Ideen die großen Herausforderungen annehmen!

INKA: Für die Pop- und Rockmusik liegt nach dem Wegfall der CD-Verkäufe nun auch das Livegeschehen in Trümmern. Nochmals drastisch weniger und auch bekannte MusikerInnen können von ihrer Arbeit überhaupt noch leben. Wie ist die Situation in der Freien Tanzszene?
Waltz: Interessanterweise kam die Tanzszene verhältnismäßig gut durch die Krise. Anders als z.B. Musiker, die oft Tourneen und Konzerte mit kurzen Probezeiten planen, die ja komplett abgesagt wurden, gibt es in der Freien Tanzszene lange Produktionszeiten, die auch gefördert sind, sodass viele Künstler auch 2020/21 viel produziert haben. Es gab unterschiedliche Unterstützungen von Stadt, Land und Bund, dazu Recherchestipendien, die für viele freie Künstler wichtig waren und sie ihre Tanzpraxis weiterführen ließen. So hat die längere Produktionszeit die Menschen davor geschützt, vor dem Nichts zu stehen. Auch wenn extrem viele Aufführungen und Premieren abgesagt wurden; bei uns eine große Asientournee, Werkschauen und Gastspiele in Europa, die wir nicht nachholen konnten. Jetzt gibt es auch wieder neue Arbeiten. Trotzdem: Viele Stücke, die kurz vor den Lockdowns in Premiere gingen oder währenddessen entstanden, sind leider verloren gegangen.

INKA: Du bist gerade von einem zweitägigen Gastspiel auf einem Tanzfestival in Lodz mit „Sym-Phonie MMXX“ zurück. Wie sind deine Eindrücke vom Stand der polnischen Kulturszene angesichts von Corona, Krieg und der in Polen sehr großen Zahl von Ukraineflüchtlingen?
Waltz: Das Theater in Lodz war komplett voll, auch sehr kurzfristig, wie die Veranstalter sagten. Sehr gemischtes Publikum. Wir haben einen interessanten polnischen Regisseur getroffen, der in Wrozlav arbeitet und eine Mischung aus Theater und Raveparty inszeniert. Es gibt spannende Entwicklungen in Polen, aber auch Repressalien, vor allem von der rechten Regierungspartei, die alle Intendantenpositionen besetzt und nicht unbedingt Direktoren ernennt, die mit experimentellen Formen und kritischen Inhalten ihre Theater in Räume des Nachdenkens und der Kritik verwandeln. Lodz ist eine sehr junge Stadt, es wird viel gebaut, saniert und investiert. Riesige Backsteinindustriehallen, die an Brooklyn erinnern, werden umgebaut. Früher war Lodz eine große Industriemetropole, das Manchester Polens, vor allem Tuch wurde hergestellt. Aber auch die grausame Geschichte der NS-Diktatur und des Überfalls auf Polen kann und muss man in der Stadt mitdenken und reflektieren. Unser östlicher Nachbar hat eine spannende, lebendige Kultur, es ist inspirierend und macht neugierig, die Kunstszene, das Theater und den Tanz weiter zu entdecken. Es gibt viele richtungsweisende Theater und Filmemacher aus Polen. Ich kam mit schönen Begegnungen und neuen Ideen nach Berlin zurück.

INKA: Was sind eure nächsten Projekte, sind neue Stücke in Planung?
Waltz: Ich erarbeite gerade ein neues Stück. 2021 habe ich Beethovens 7. Symphonie, 2. und 4. Satz choreografiert. Es wurde in Delphi/Griechenland auf der archäologischen Stätte vor dem heiligen Tempel des Apollon zusammen mit Live-Orchester aufgeführt und auf Arte im Rahmen des Beethoven-Tags live gestreamt, aber wir haben es nie im Theater gezeigt. Jetzt choreografiere ich den 1. und 3. Satz und präsentiere das gesamte Werk. Dazu erarbeite ich einen neuen zeitgenössischen Teil mit dem chilenischen Komponisten Diego Noguera Berger. Er arbeitet mit elektronischer Musik und bezieht sich in zeitgenössischer Weise auf Beethoven. So werde ich zwei sehr unterschiedliche Empfindungswelten kreieren und hoffentlich auch die Hörerfahrung verändern. Wir proben gerade mit 14 internationalen Tänzern für die Premiere im Radialsystem nächstes Jahr – unserem 30. Compagnie-Jubiläum.

INKA: Was sind deine Empfehlungen für das „Tanz Karlsruhe“-Festival?
Waltz: Mich macht das Programm vor allem neugierig auf die junge lokale Szene. Man kann die jungen Talente entdecken, beim „Solo-Tanz“ oder der „Langen Nacht“, und das junge Choreografenduo Kiesecker Hoess besuchen. Wer auf Nummer sicher gehen möchte, dem empfehle ich Sidi Larbi Cherkaouis „Nomads“, zumindest, wenn man noch nichts von ihm gesehen hat. Ich würde das Festival nutzen, um einen Überblick über die Tanzszene zu bekommen. Die Energie, die die Tänzer dem Publikum schenken, kann uns über den harten Winter hinweghelfen. Also nichts wie hin, Karten kaufen und jeden Abend im warmen Theater sitzen!

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