Wohnungslosigkeit: „Karlsruher Weg“ zur eigenen Wohnung
Stadtleben // Artikel vom 02.12.2021
Mit dem Übergang in die kalte Jahreszeit ist es wie bei den meisten Veränderungen in diesen Zeiten.
Sie trifft die Schwächsten der Gesellschaft am stärksten. Wohnungslosen nehmen die kalten Temperaturen bspw. ihre gewohnten Schlupflöcher. „Wir versuchen in Karlsruhe, den Winter positiv zu sehen, denn er bringt uns Zugang zu Menschen“, versucht der Sozialbürgermeister Martin Lenz dagegen die Chancen zu betonen. „Nach dem Winter im Erfrierungsschutz versuchen wir den Menschen mit anderen Unterstützungsangeboten zu helfen“, erklärt er seinen „Karlsruher Weg“ in der Wohnungslosenhilfe. Die Besonderheit ist die vglw. große Zahl an Wohnungen von PrivateigentümerInnen, die die Stadt an Wohnungslose vermitteln kann. „Wir sind die einzige Stadt mit einem Sozialamt, das über eigene Wohnungen verfügt“, sagt Lenz. Etwa 1.000 Wohnungen würden unter Vermittlung und Garantien der Stadt dauerhaft und direkt vom Eigentümer an Wohnungslose vermietet. Durch das Einbeziehen privater Vermieter tauchten die Wohnungen überall in der Stadt auf und sorgten für sehr große soziale Durchmischung, hebt Lenz hervor. Als der Sozialdezernent das Programm „Wohnraumakquise durch Kooperation“ 2003 ins Leben rief, sei er ob der niedrigen Leerstandsquote in der Stadt mit einiger Skepsis konfrontiert gewesen. „Es hat tatsächlich länger gedauert, bis wir 100 Wohnungen hatten, aber bis heute können wir ein lineares Wachstum der Anzahl der Wohnungen feststellen.“ Unterstützen würden vor allem „ein, zwei Sozialinvestoren als Hauptgeber“, doch zusätzlich auch eine wachsende Zahl einzelner, privater Eigentümer, sagt Lenz.
Der „Karlsruher Weg“, für den sich laut Lenz selbst Wien ein Vorbild an Karlsruhe nähme, setzt auf eine enge Zusammenarbeit mit sozialen Trägern. Einer davon, ist der 1980 gegründete Verein Sozpädal, der all die unterstützen will, „die vom öffentlichen Hilfesystem nicht oder nicht ausreichend erfasst werden.“ Auch die Arbeit des Vereins begann mit einer für Wohnungslose angemieteten Wohnung, erzählt Lissi Hohnerlein. „Wir haben auf eigene Faust eine Wohnung gemietet. Finanziert wurde das aus Spenden und die Arbeit lief rein ehrenamtlich.“ Damals wie heute frage sich Sozpädal: „Was ist der Bedarf, was gibt es noch nicht?“ „Wir haben gelernt, was den Menschen außer einer Wohnung sonst noch fehlt. Das sind vor allem Freunde und persönliche Kontakte“, schildert die Mitinitiatorin des Tagestreffs für Frauen (Taff) die wichtigsten Erfahrungen schon aus dem ersten Projekt. Inzwischen hat auch Sozpädal einige mehr Wohnungen angemietet, die sie im Unterschied zur Stadt selbst an in Not geratene Menschen vermietet. Interessierte würden über Beratungsstellen oder aufsuchende Lotsen angesprochen und müssten sich dann im Büro vorstellen. Zusätzlicher Wohnraum werde aber dringend gesucht. „Durch Hausverkäufe haben wir in den vergangenen Jahren einige Wohnungen verloren. Darunter waren auch Häuser mit bis zu zehn Wohnungen von uns“, sagt Sarah Bruder, Bereichsleiterin von Sozpädal. „Wir geben den Vermietern Mietgarantien und kümmern uns um die Wohnungen und Reparaturen“, wirbt sie um potenzielle Vermieter. Besonders gesucht werde „Einfachstwohnraum“, ergänzt ihre Kollegin Susanne Pastor. „Es gibt nicht nur Miethaie, einige Vermieter vergeben aus sozialem Anspruch an uns“, gibt sie sich trotz des immer umkämpfteren Wohnungsmarkts etwas Hoffnung. Ohne die Hilfe von Trägern wie Sozpädal hätten Wohnungslose auf dem Markt kaum eine Chance. „Wohnungslose stehen auf der Interessensskala der Vermieter ganz unten.“ Doch durch den immer knapperen Wohnraum in der Stadt kann auch Sozpädal längst nicht mehr alle Bedürftigen unterbringen.
Wichtig sei, die neuen Mieter nicht allein zu lassen. „Bei uns wohnt niemand unbetreut. Es braucht Sozialarbeit, um zu verhindern, dass Menschen wieder wohnungslos werden“, sagt Pastor. Bei Sozpädal sind die Sozialarbeiter Betreuer und Vermieter in einem, um eine Ansprechperson zu haben, denn „es gab Gründe, warum Menschen wohnungslos wurden“, sagt Bruder. Die häufigste Ursache der Wohnungslosigkeit sind Kündigungen aufgrund von Mietrückständen. Auch hier zeichnet Lenz eine Besonderheit des „Karlsruher Wegs“: In Karlsruhe erfahre man durch lang geübte Kommunikationskanäle über fast jede anstehende Zwangsräumung und könne mit der Fachstelle Wohnungssicherung intervenieren. Öffentlich getragene Wohnungsträger verzichten in Karlsruhe ganz auf dieses Instrument. „Das ist der Fehler in anderen Städten. Mit Räumungsklage durch öffentliche Wohnungsträger werden Menschen in den nächsten Sozialetat geschoben. Das ist irrsinnig“, sagt Lenz. 2020 konnte die Stadt mit der Übernahme von Mietrückständen 167 Haushalte der insgesamt 640 Verfahren vor dem Wohnungsverlust bewahren.
Nach Angaben der Stadt waren zum Stichtag 31.12.20 556 Menschen in Karlsruhe wohnungslos. Die im Verhältnis zu anderen Städten sehr geringe Zahl führt Lenz auf den eingeschlagenen Weg zurück. „Ohne die Wohnraumakquise hätten wir 1.000 Wohnungslose mehr.“ Die im Vergleich zu den Vorjahren rückläufige Zahl kann Pastor „nicht ganz glauben. Ich frage mich, ob die Pandemie da vielleicht ein paar Menschen verschluckt hat.“ Nach einer Faustformel müsse immer ein Viertel auf die offiziellen Zahlen draufgeschlagen werden und es gäbe immer unklare Dunkelziffern. „Wie viele junge Erwachsene auf der Couch oder in der Gartenhütte leben, ist nicht abschätzbar“, sagt Hohnerlein, die allein in der eigenen Frauenberatungsstelle 110 Postfächer für Frauen verwaltet, die keinen eigenen Briefkasten haben. Frauen machten in etwa 30 Prozent aller Wohnungslosen aus, zeige die Erfahrung. Das Armutsrisiko gerade für Familien sei seit dem Ende der 2000er Jahre deutlich gewachsen. „Zu uns kommen Menschen, da im Taff WLAN für das Homeschooling ist, was sie zuhause nicht haben“, sagt Hohnerlein. Auch der städtische Sachstandsbericht warnt: „Fehlender Leerstand, die Preisentwicklung der Mieten und eine zunehmende Zahl von ‚Geringverdienenden‘, die die Mieten über den sozialhilferechtlichen Grenzen nicht finanzieren können, erschweren die Situation.“
Lenz verweist auch auf die zunehmende Zahl der Menschen in prekären Beschäftigungen (Working Poor) und warnt von einer individuellen Schuld der Menschen an der Wohnungslosigkeit auszugehen. Der Glaube sei aber „in vielen Ämtern noch weit verbreitet“. Lenz sieht sich in der Wohnungslosenhilfe dagegen auch wirtschaftlich auf einem guten Weg. „Aktuell 100 Wohnungslose weniger als zu Jahresbeginn machen mich als Sozialbürgermeister stark.“ In der Corona-Krise hätten in Karlsruhe nicht wie in anderen Städten zusätzliche Hotelzimmer angemietet werden müssen, da Einzelzimmer in Sammelunterkünften lange schon weit verbreitet waren, sagt er. „Soziale Politik ist auch wirtschaftlich.“ Dazu gehöre auch die Wohnraumakquise. „Wohnungslosigkeit kostet dreimal mehr als die Wohnung selbst!“ Bei Pastor wächst dagegen mit dem aktuellen Sparhaushalt die „Sorge, mit neuen Angeboten auf Granit zu beißen. Neue Konzepte und Projekte entsprechend identifizierter Bedarfe zu entwickeln, war schon immer unser Ansatz.“ Auch Bruder hofft, dass die Pandemie und Sparmaßnahmen die Öffnungszeiten der Behörden nicht weiter einschränken: „Für Lebenslagen, die nur von jetzt auf gleich planen können, sind Online-Angebote nicht machbar. In der Regel fehlen schon die Endgeräte und eine Internetverbindung. Wir wünschen uns wieder mehr Präsenz und direkten Kontakt.“
Über den Erfolg des „Karlsruher Wegs“ geben sich Sozialbürgermeister und Träger trotz manch unterschiedlicher Auffassung erstaunlich einig. Doch nicht alle Wohnungslosen sind für die Angebote erreichbar. „Ins Taff kommen immer wieder Frauen, die mit Schlafsack auf der Straße leben und auch teilweise nicht den Erfrierungsschutz aufsuchen. Ihnen reicht die Alltagsversorgung bei uns“, sagt Hohnerlein. „Es wird immer eine gewisse Dunkelziffer geben, die unsere Systeme nicht braucht“, sagt auch Lenz. Dagegen habe sich die Sorge, dass die Angebote des „Karlsruher Wegs“ Menschen aus Hamburg und anderen Städten zusätzlich attraktiv machen würden, nicht bewahrheitet. „Karlsruhe zieht durch seine Gerichte viel mehr Menschen an, die mit Aktenordnern ihren Fall vortragen wollen, als es die Unterstützungsangebote tun“, sagt Hohnerlein. -fk
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